#302: wie die Zeit vergeht

Und schon ist es wieder Frühling und alles verändert sich. Über Ostern waren wir in London und als wir abends zurück ins Hotel kommen, sitzt neben unserer Türe eine alte Dame mit 2 Taschen am Boden. Der Rücken gekrümmt und die Schultern nach vorne hängend, musste ich sie fragen, ob den alles in Ordnung sei und ob ich ihr helfen kann. Mit sehr leiser Stimme wies sie auf die Türe hin und meinte, dass sie es nicht schaffen würde, diese zu öffnen. Die Dame hatte einfach bei der falschen Türe versucht hineinzukommen, also nahm ich ihre Taschen und wir gingen zu dem Zimmer, dass sie eigentlich bewohnen sollte. Trotz ihres langen und dicken Daunenmantel merkte ich, wie zerbrechlich und unsicher sie war. In ihrem Zimmer half ich ihr aus dem Mantel und stellte die Taschen ab. Sie stand in der Mitte des Raumes und sah das große Bett an. Sie war müde, so sehr müde und doch stand sie jetzt mitten im Raum und wußte nicht, was sie zuerst tun sollte. Ihre Unsicherheit traf mich, und nochmals fragte ich sie, ob mit ihr alles in Ordnung wäre. Und auf einmal fing sie an zu weinen und erzählte mir wie traurig sie sich fühlt.

Ihr Mann ist schon vor längerer Zeit verstorben und sie ist alleine in einer Kleinstadt, wo sie sich nicht wohl fühlt. Sie musste von dort fort, hat den Neid und die Missgunst gespürt und gehört. Und glaubt ausgeschlossen zu sein. Sie erzählte mir von einem Haus und von Land und von dem Wegwollen. Als mein Telefon läutete, straffte sie ihre Schultern und sie bedankte sich formvollendet, als ob sie sich ihrer Schwäche auf einmal bewusst geworden wäre. Ich war entlassen.

Und trotzdem am nächsten Morgen musste ich an die alte Dame denken und wollte nur kurz nachsehen, ob auch wirklich alles in Ordnung war. Vielleicht war es nur ein Gefühlsausbruch und alles schon wieder so, wie es sein sollte. Ich ging nach dem Frühstück zu dem Zimmer und vor der Türe in der Ecke stand sie mit dem viel zu großen und dicken schwarzen Daunenmantel. In der Ecke, wie ein Kind, dass etwas angestellt hatte und vor lautern Scham sich nicht bewegen wollte. Behutsam sagte ich guten Morgen und ich fragte mich, ob sie schon seit letzter Nacht vielleicht vor der Türe stand. Als sie mich sah, löste sie sich von ihrer Ecke und bat mich um Hilfe. Sie brauchte mehr als nur in ihr Zimmer wieder zu kommen, sie musste mit jemanden reden. Also hörte ich zu. Einerseits wirr und andererseits klar formulierte sie, wonach sie suchte. Ich konnte sie überzeugen, dass wir zur Rezeption gehen sollten, um Hilfe zu holen. Händchenhaltend gingen wir hinunter. Ich spürte ihren festen Griff, der Halt suchte.

Die Damen an der Rezeption (PremierInn St. Pancrass) waren wunderbar und einfühlsam und nachdem Eine von Ihnen französisch mit ihr sprach, schöpfte sie Vertrauen. Wie ich später erfuhr, hat sie ihre Medikamente vergessen einzunehmen, wodurch sich ihre Verwirrung verstärkt hat. Zeit schien für die Frau ein dehnbarer Begriff und Moment geworden zu sein.

Alter ist nicht nur Zeit, die vergeht. Sie nagt auch an uns. Aber es sind auch die Menschen rund um uns herum, die einem die Hand geben, um uns zu halten, die uns mit festen Schritten begleiten. Ich versuche heute so ein Mensch zu sein, und es wäre eine Lüge zu sagen, dass ich es immer schaffe und bin, aber ich versuche es, und ich hoffe darauf, dass ich eine Hand finde, wenn ich sie brauche.

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